Wie ein gleißendes Auge steht die Sonne über dem Straßenband. Der Asphalt wird in der unbarmherzigen Sommerhitze Chicagos zu einer klebrig plasmaartigen Substanz verschmolzen und von unzähligen Reifen vorbeibrausender Automobile zu rinnenartigen, grau-schwarzen Gebirgen aufgeworfen. Zwischen den rissigen Häuserschluchten, rostigen Eisenzäunen und vergilbten Ladenfenstern der Stadt erstreckt sich die Mall wie ein einziger riesenhafter, glühender und sich windender Lindwurm.
Mit lautem Hupen und Motorengekreische jagen schwarze Limousinen, schwerfällige Lieferwagen und wendige Motorräder durch die dickflüssige, heiße Luft, beladen mit den Wünschen und Träumen ihrer Fahrer, die sie in kleinen Paketen in ihrem Kofferraum oder auf dem Gepäckträger ihres Zweirades befestigt haben und mit denen sie hier auf Reisen gehen. Immer im Takt der Großstadt. Jenes Molochs, der daliegt, atmet, faucht und brüllt.
Der Gehweg ist schwarz von den Menschenmassen, die hier einhergehen!
Hastend, hetztend schauen sie auf die Uhr, beschleunigen ihren Schritt, weichen aus, kaufen etwas, arbeiten, wischen sich den Schweiß von der Stirn. Doch nie atmen sie durch, nie kommen sie zur Ruhe...!
Ein Mann drückt sich an die Hauswand zu seiner Linken, um dem reißenden Strom der Passanten für ein paar Momente zu entgehen und sich eine Zigarrete anzuzünden.
Während er den Rauch gierig in seine Lungen saugt, schaut er sich etwas um.
Sein Blick gleitet an der Wand empor, an die er sich soeben etwas angelehnt hat. Genauer genommen handelt es sich aber nicht um eine Wand, sondern um das Schaufenster eines Landengeschäfts.
"Gidorich’s Gebildgebäck"
steht darüber in eigentümlich verschnörkelten Buchstaben.
Der Mann sieht genauer hin. Hinter dem Fenster meint er ein freundliches Gesicht ausmachen zu können, doch er ist sich wegen der Reflektionen auf der Scheibe nicht sicher. Das Gesicht scheint zu lächeln. Ein Winken. Komm herein…
Der Mann lässt den Zigarettenstummel fallen und ist mit einem großen Schritt vor der Ladentür, die ihm wie das Tor zu einer glücklichen Verheißung erscheint.
Goldbraun gebrannte Laugenbrezeln mit schneeweißen Salzkristallen darauf erscheinen vor seinem geistigen Auge, verströmen eine angenehm warmen Duft und lassen sich, leicht und schwingend wie Daunenfedern, auf Porzellantellern mit gelben Papierservietten nieder, während sich daneben ein Glas frischer Zitronenlimonade herabsenkt wie ein Raumschiff.
Die Tür wird von innen aufgezogen Das freundliche Gesicht erscheint dahinter. Eine Frau. Indianisch.
„Einen wunderschönen Tag! Komm doch herein!“
Der Mann ist wie in Trance. Um ihn herum fließt, ungerührt und ungebremst, der reißende Strom der Stadt. Doch in diesem Moment fühlt er sich auf eine seltsam behütete Art allein. Allein mit dieser Frau. Und mit den Brezeln, die, gleich dem Abglanz einer allmächtigen Gottheit, alles in seiner Umgebung in einen gold-glänzenden Schimmer tauchen.
„Wer…wer bist du…?“ stottert der Mann und seine Hand bewegt sich in Richtung des Gesichtes, hält jedoch inne „Sollte ich dich…“ ein Zittern der Finger „…kennen?“
Da jagt ein herzliches Lachen über das Gesicht, sodass sich an den Augenwinkeln tiefe Furchen bilden. „Es ist ganz egal, wer ich bin. Hauptsache ist, du ruhst dich ein wenig aus, kommst herein, legst die Füße hoch und nimmst ein paar Nibelaugenbrezeln!“
Der Mann setzt sich in Bewegung und folgt der Frau, als diese sich, weiterhin lachend, herumdreht und wieder im Ladeninnern verschwindet.
"Nibelaugenbrezeln....!" ist sein letzter bewusster Gedanke.
Er betritt den Laden und mit ihm eine andere Welt voll herzhafter Wohlgenüsse und salziger Leidenschaften.
Hinter ihm fällt die Tür ins Schloss.